Die Digitalisierung ist eine so tiefgreifende Veränderung in unserer Gesellschaft, sie wird auch vor Kirchenstrukturen keinen Halt machen. Im Gespräch mit Hubertus Schönemann und Andrea Imbsweiler (Foto v.l.n.r.) von der katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) über schleichende Prozesse und neue Strukturen.
Die Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral ist eine Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz. Sie wurde 2010 in Erfurt gegründet, um die Transformationsprozesse der Bistümer in Deutschland mit Expertise und Unterstützung zu begleiten. Die KAMP interessiert sich unter anderem für den gesellschaftlichen Hintergrund der Digitalität und den Einfluss auf kirchliche Veränderungsprozesse. Es geht dabei um Formen zukünftiger Glaubenskommunikation, aber auch um Gemeinschaftsformen, die sich derzeit verändern.
Herr Schönemann, welche Auswirkungen wird die Digitalisierung auf die Strukturprozesse in den (Erz-)Bistümern haben?
Schönemann: Bei dieser Frage steht für uns erst einmal der gesellschaftliche Aspekt im Vordergrund. Es ist nämlich so, dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse durch die Digitalisierung vorangetrieben und verstärkt werden, was einen konkreten Einfluss auf die Kirche und ihre Pastoral hat. Die zunehmende Komplexität und Ausdifferenzierung der Gesellschaft ruft einen Kulturwandel hervor, der mit der Kirche nicht immer ganz konfliktfrei abläuft.
Beispielsweise?
Schönemann: Eine Auswirkung der Digitalisierung ist es, dass die Singularität der Menschen immer mehr zunimmt. Für die Kirche bedeutet das, dass auch sie in Zukunft nicht mehr homogen sein kann, sondern dieser Diversifizierung irgendwie gerecht werden muss. Das ist eine große Herausforderung, in der Kirche lernen muss, die Prozesse zu unterstützen, die Einheit in Vielheit hervorbringen. Dort kommt dann auch die technische Seite der Digitalisierung ins Spiel.
Wie würde eine katholische Kirche aussehen, die diese Einheit in Vielheit unterstützt?
Schönemann: Also diese Wandlungsprozesse geschehen ja schon. Die Kirche muss lernen, damit umzugehen, das wäre die beste Unterstützung. Es entstehen zum Beispiel neue dezentrale Gemeinschaftsformen. Es reicht also nicht, ein traditionelles Gemeindeverständnis weiter zu “bedienen”. Es wird sich dann hoffentlich ein neues Verständnis entwickeln, was Platz dafür hat, dass sich in einer Pfarrei viele verschiedene Formen und Weisen des Christseins finden und leben lassen.
Was würde so ein Konzept aber für die Arbeit der Hauptamtlichen bedeuten?
Schönemann: Früher kannte der Pfarrer “seine” Mitglieder und “betreute” sie, künftig wird das dann nicht mehr uneingeschränkt so sein. Menschen engagieren sich dann stärker selbstständig und selbstverantwortlich für ihren Glauben und das Leben der Kirche, ohne dass die Hauptberuflichen alles mitbekommen oder gar kontrollieren können. Dabei wird sich dann auch die Auffassung von den pastoralen Aufgaben ganz massiv ändern. Also weg von der Versorgung und der Betreuung zentraler Art hin zur Unterstützung und Ermöglichung von dezentralen Formaten des Christseins durch die Getauften.
War da die Coronapandemie ein wichtiger Auslöser für Digitalisierungsprozesse in der Kirche?
Schönemann: Die Digitalisierungsprozesse wurden nicht erst durch die Pandemie ausgelöst, haben aber durch sie einen massiven Schub erfahren - gerade in der Kirche. Manche Menschen haben sich von der Kirche verabschiedet, da sie sich nicht mehr von ihrem Leben angesprochen fühlen. Andere hingegen entwickelten neue und kreative, oft internetbasierte Formen aus eigener Initiative heraus.
Internetbasierte Gemeinschaften, wie z.B. die Lingualpfeife-Community, sind oft dezentral organisiert. Das bedeutet auch einen Kontrollverlust für die katholische Kirche durch die Enthierarchisierung. Wie wird die Kirche damit umgehen?
Imbsweiler: Es stimmt, es gibt vermehrt den Impuls zur Selbststeuerung und Selbstorganisation, anstatt sich top-down “versorgen” zu lassen. Die Lingualpfeife-Community ist da ein gutes Beispiel. Es sind Menschen, die sich zunächst um ihr gemeinsames Interesse Kirchenmusik und Liturgie online zusammengefunden haben und so eine ortsunabhängige Gemeinschaft nach ihren Bedürfnissen gestalten. Priester und Seelsorger:innen sind dabei, haben aber nicht die Leitung. Ob und wie solche Gemeinschaften in die Struktur der Kirche integriert werden, hängt davon ab, ob die Leitung ihr Verständnis von Kirche weiterentwickelt und solche Formen als Gemeinde anerkennt und mitdenkt oder auf dem Prinzip der Territorialität besteht, also von Strukturen wie Bistum und Pfarrei her denkt.
Welche Rolle werden Ehrenamtliche in diesen dezentraleren Strukturen spielen?
Schönemann: Wir glauben, dass die Kirche der Zukunft eine Kirche der Getauften sein wird. Also eine Kirche der möglichst großen Beteiligung von Menschen. Das verändert wie gesagt auch massiv die Rolle der Ordinierten und der hauptberuflich Beschäftigten. Davon gibt es ja auch immer weniger.
Müssen Ehrenamtliche sozusagen die zurückgehende Zahl an Hauptamtlichen ersetzen?
Schönemann: Dass die Zahl zurückgeht, ist der äußere Anlass für die stärkere Einbindung von Ehrenamtlichen. Grundlegend dafür ist aber eher, dass das Zweite Vatikanische Konzil die katholische Kirche zunächst als Volk Gottes, als Gemeinschaft der Getauften sieht, vor aller Differenzierung in Dienste und Ämter. Die Getauften bringen das mit ein, was sie haben und welche Gaben ihnen der Heilige Geist schenkt, um Kirche zu sein.
So können sie immer mehr Verantwortung nach innen - aber auch nach außen übernehmen. Die Kirche muss dann für Rahmenbedingungen Sorge tragen, die auch junge Menschen langfristig motivieren, sich mit ihren manuellen als auch digitalen Gaben in ihr einzusetzen.
Gottesdienst-Livestreams kann man nun kommentieren, Zoom-Gebetstreffen einfach verlassen oder während der Kirchenratssitzung chatten. Inwiefern ändert sich das Kirchenverständnis durch die Digitalisierung?
Imbsweiler: Es gibt einen neuen Blick auf Partizipation, auf Teilhabe. Gottesdienstbesucher und Besucherinnen sind weniger Empfänger, die auf feststehende Antworten festgelegt sind, sondern sie können selbst aktiv werden und Eigenes einbringen. So wird Kirche weniger hierarchisch, dazu auch weniger ortsgebunden und freier vernetzt gedacht.
Läuft diese freie Vernetzung aber nicht auch Gefahr, dass so persönliche Kontakte auf der Strecke bleiben, die gerade für Pastoral sehr wichtig sind?
Imbsweiler: Digitale und territoriale Angebote sind etwas, was sich ergänzen sollte. Es ist auch eine Frage des persönlichen Umgangs mit dem Digitalen - für manche finden da intensive Kontakte statt, andere tun sich damit schwerer. Ich träume jedenfalls nicht von einer voll digitalen Kirche, sondern von digitaler Kirche dort, wo sie Menschen zusammenbringt, denen sonst etwas fehlen würde, die nicht vor Ort finden, was sie brauchen - und dort, wo sie Strukturen, Prozesse und Kommunikation vereinfacht.
Schönemann: Eine interessante Erfahrung von uns ist auch, dass sich digitale Gemeinschaftsformen immer wieder zu einem analogen Treffen tendieren. Da ist es wohl dann doch nicht so, dass alles in den digital kommunikativen Raum verlegt werden kann, sondern dass auch das persönliche Treffen Vorteile bieten.
Nun ist Ihr Wunschtraum, Frau Imbsweiler, nicht der einer voll digitalen Kirche. Doch wo können Kirchen online gehen und wo sollten sie ortsgebunden bleiben? Welche Rolle wird da das Konzept der hybriden Kirche in Zukunft spielen?
Imbsweiler: Die Verbindung von digitalen Formen und Kirche vor Ort wird eine immer größere Rolle spielen, da die Kirche nicht mehr zu 100 Prozent überall präsent sein kann. Nicht in jedem Dorf oder jedem Stadtteil können Gottesdienste und andere Angebote wie bisher erhalten bleiben oder gar eine Vielfalt von Formen und Stilen bieten, was eigentlich wichtig wäre. Das sehen wir besonders auch hier im Osten Deutschlands mit der Diasporasituation der Katholiken. Da könnten Onlinetreffen eine große Erleichterung sein: Man kann sich beispielsweise zweiwöchentlich online und einmal im Vierteljahr in Präsenz treffen. Wichtig bei einem hybriden Ansatz ist es, dass digitale und nicht-digitale Formate sich nicht gegenüberstehen, sondern verflochten werden.
Bezüglich der Digitalisierungsprozesse gibt es eine Ungleichzeitigkeit in der katholischen Kirche. Manche (Erz)-Bistümer stellen sich der Aufgabe viel eher als andere...
Schönemann: Eine solche Ungleichzeitigkeit ist auch innerhalb eines Bistums zu beobachten. Aber wenn wir uns Bistümer als Aktionsebene anschauen wollen: Es gibt schon Bistümer, die eher dazu bereit sind zu experimentieren und Neues auszuprobieren. Auch unser eigenes Angebot der Internetseelsorge zeigt, dass es viele Angebote der katholischen Internetkirche gibt, die sich ständig weiter entwickeln. Vorreiter für digitale Pastoral sind sicherlich u.a. Bistümer wie Hildesheim, Freiburg, Speyer, Münster oder Würzburg. Es geht nicht darum, ein Bistumsranking zu machen. Doch ich kann auch nicht verhehlen, dass es auch Realität ist, dass ein Pfarrer im Ruhestand seine Predigten ins Netz stellt und deswegen dann der Internetseelsorgebeauftragte des Bistums wird.
Digitalisierung bedeutet ja auch mehr als dass Kirchen nun einen Social-Media-Account pflegen. Wo sehen Sie einen Bereich, in dem die digitale Kirche unterschätzt wird?
Imbsweiler: Digitale Kirche ist nicht nur das, was offiziell von den Bistümern und Institutionen umgesetzt wird. Sondern sie ist viel mehr auch das Ergebnis der Eigeninitiative von Menschen, die mit ihrem Interesse und ihrem Glauben im Netz unterwegs sind. In Foren, Blogs oder den sozialen Medien. Das wird noch zu wenig gesehen und gewürdigt.
Nach dem Selbstverständnis der KAMP hängt die Erneuerung der Kirche mit der Evangelisierung zusammen. Welchen Einfluss hat Digitalisierung auf Mission und die Sichtweise auf pastorale Arbeit?
Schönemann: Die Idee, dass andere zu uns kommen und sich ändern müssen, wir aber nicht, wäre ein sehr klassisches Missionsverständnis. So verstehen wir Mission aber heute nicht mehr. Mission ist eher Dialog, rausgehen und auch eine gewisse Offenheit, das eigene Christsein stärker an dem zu verstehen und zu entwickeln, was wir in der Kommunikation mit dem “Außen” und dem “Fremden” entdecken. Wie in der digitalen Welt ist Kommunikation mit dem Gegenüber oder Verkündigung dann keine Einbahnstraße mehr. Es stellt sich aber die Frage, inwiefern die Kirche dazu bereit ist, von der Digitalisierung zu lernen und anzunehmen, dass der andere mir auch etwas über Gott zeigen kann und wir den Weg gemeinsam gehen können.
Wie verändert sich also kirchliche Kommunikation durch die Digitalisierung?
Imbsweiler: Klassisch haben wir die großen Verlautbarungen und im Kleinen dann die Face-to-Face-Kommunikation. Da hat sich schon jetzt viel verändert. Gerade in Social Media sehen wir, dass der Rückkanal viel ernster genommen wird. Das kann überraschend sein für Menschen die es gewohnt sind, nur auf der Senderseite zu stehen - und da gibt es noch viel zu lernen.
Herr Schönemann, können Sie zum Abschluss digitale Kirche noch einmal in einem Satz beschreiben?
Schönemann: Eine digitale Kirche ist ganz klar eine lernende und dezentrale Kirche. Das hat ganz konkrete Auswirkungen auf den Stil, wie sich Kirche versammelt und hinausgeht, wie eine menschliche Pastoral “auf Augenhöhe” betrieben wird und wie die Gemeinschaftsformen aussehen.
Wir haben gesprochen mit Dr. Hubertus Schönemann, dem Leiter der KAMP-Arbeitsstelle und Andrea Imbsweiler, Referentin im Referat Evangelisierung und Digitalisierung der KAMP.